Unlustveredelung
Wo immer man hinkommt, überall sind die Menschen irgendwie hysterisch und nervös. Jeder will sein Leben ändern. Ob mit Esoterik, Psychologie oder Buddhismus - immer geht es darum, seine gekränkte Seele zu verarzten und sich für den Konkurrenzkampf fit zu machen. Nur mir nicht, denn ich gönne mir die Delikatesse eines mangelnden Selbstbewusstseins. Es bereitet mir eine überirdische Freude, mich in meinem Kummer bequem einzurichten. Wenn dann noch ein wenig Selbstgefälligkeit hinzutritt, bin ich eigentlich vollkommen; freilich auf eine Weise, die äußerst zerbrechlich ist. So ein mangelndes Selbstbewusstsein lebt eben gefährlich; Ermunterung lauert an jeder Ecke. Kulturgeschichtlich virulente Entitäten wie Melancholie, Tiefe, Weltschmerz oder das Phänomen der christlichen Selbstkasteiung lassen die Innovationskraft des mangelnden Selbstbewusstseins erahnen. Dies ist nur scheinbar ein Paradox, denn gerade der Mensch, der nicht den Anschluss findet und an seiner Unverstandenheit leidet, hat es geradezu nötig, neue Formen des Denkens und Fühlens auszuprobieren. Wenn ihm die Möglichkeiten wirklicher Einflussnahme fehlen, muss er eben seine Innerlichkeit, die ihm niemand nehmen kann, aufwerten, verfeinern und kultivieren. Nicht Lustbefriedigung ist ihm sein Ziel, sondern Unlustveredelung.
Julian Apostata - 16. Jun, 11:32